Russland und Europa - eine Zwischenbilanz

Vortrag am 27. Juni 2001 an der FHS München, Internationaler Tag des Fachbereichs Allgemeinwissenschaften.

Der Zusammenbruch des kommunistischen Herrschaftssystems, verbunden mit dem Zerfall der Sowjetunion, sollte Russland den Weg zur Modernisierung und Demokratisierung öffnen. Aber Russland erweckt heute den Eindruck einer tiefen Krise: einer Krise der politischen Ordnung, einer wirtschaftlichen und sozialen Krise, einer Orientierungskrise.

Es ist keine Frage, dass sich die Dinge in Russland unter Präsident Putin keineswegs nur positiv gestalten. Eine solche Erwartung ist aber grundsätzlich und vor dem Hintergrund der russischen Geschichte auch völlig unangemessen. Der kritische Blick auf das politische System Russlands muss sich davor hüten, vorschnell "westliche" Maßstäbe anzulegen. Zunächst ist Russland "aus sich selbst heraus" zu verstehen und Vorsicht ist geboten mit moralischen Urteilen und politischen Rezepten, die sich allein an unseren westlichen Modellen von Marktwirtschaft und Demokratie orientieren.

Michail Gorbatschow und seine Anhänger initiierten seit 1986 weitreichende Reformen des erstarrten autoritären Sowjetsystems, die den Prozess einer teilweisen Demokratisierung der politischen Ordnung anstießen. Dieser Prozess setzte sich nach 1990/91 in der neu gegründeten Russländischen Föderation (RF) in stark veränderter Form fort. Gorbatschows Politik von glasnost (Transparenz, Durchsichtigkeit, Informations- und Meinungsfreiheit) und perestroika (Umbau des Staats- und Behördenapparates, des Militärs, der Wirtschaft, der Justiz und Lösung der Nationalitätenfrage) zielte auf eine Wiederbelebung und grundlegende Reform der Kommunistischen Partei (KPdSU) und des "bürokratischen Sozialismus" im Sinne eines "demokratischen Sozialismus". Nicht beabsichtigt war die Abschaffung und Ersetzung des Sozialismus durch eine liberal-kapitalistische Marktwirtschaft und eine pluralistische Demokratie nach westlichem Vorbild. Die staatliche Exekutive wurde gegenüber der Partei durch die Einführung des Präsidialsystems im März 1990 gestärkt. Am Ende (1991) stand eine sehr ambivalente Bilanz. Einerseits wurden wichtige Schritte zur Öffnung und Demokratisierung des politischen Systems unternommen, andererseits gingen sie nicht weit genug beim Abbau tradierter autoritärer Machtstrukturen. Wirtschaftsreformen wurden nur halbherzig und inkonsequent durchgeführt, die Einführung eines echten Föderalismus in der Union nur widerwillig und verspätet angestrebt.

Als begrenzte Erfolge der Demokratisierung unter Gorbatschow (1986-1991) sind zu nennen:

  • Abbau der Alleinherrschaft der KPdSU bis hinzu ihrer - so nicht gewollten - völligen Entmachtung nach dem "August-Putsch" konservativer Kräfte 1991 (der Rivale Jelzin setzte danach ihr Verbot und die Trennung von Staat und Partei durch).
  • Herausbildung einer kritischen Öffentlichkeit, Entideologisierung und Entdogmatisierung des öffentlichen Lebens von Bildung, Kultur und Wissenschaft.
  • Schritte zur Gewährleistung politischer Grundrechte und von Rechtsstaatlichkeit.
  • Entwicklung eines politischen Pluralismus, Ansätze für ein Mehrparteiensystem.
  • Stärkung der Vertretungsorgane des Volkes gegenüber der Exekutive.
  • Ansätze zu freien Wahlen, zur Förderung politischer Partizipation und einer demokratischen politischen Kultur, Förderung innerparteilicher Demokratie.
  • Teilweise Ablösung der alten Nomenklatura-Eliten.
  • Ansätze zur Reform der Union in Richtung Föderalismus.
  • Versuch der Vergangenheitsbewältigung (u.a. teilweise Öffnung der Archive).

Unübersehbar sind aber auch die Grenzen der Demokratisierung dieser Periode:

  • Die Macht der zentralen Herrschaftsapparate, der alten Eliten waren auf Unionsebene und in der russischen Unionsrepublik (RSFSR), vor allem aber auf regionaler und lokaler Ebene nur teilweise gebrochen.
  • Es gab keine durchgreifende Demokratisierung der politischen Institutionen.
  • Die Wirtschaftsreformen leiteten den Zusammenbruch der Planwirtschaft ein, schufen aber keine ausreichende Basis für die Akzeptanz von Marktwirtschaft und Demokratie.
  • Grundlegende politische, verfassungsrechtliche, ökonomische und ethnisch-kulturelle Konflikte der Unionsrepubliken mit der Zentralmacht wie auch innerhalb der meisten Unionsrepubliken bleiben bestehen; sie wurden nicht im Sinne eines demokratischen Föderalismus und einer geregelten Autonomie der Regionen gelöst.
  • Es beginnt ein Verfall gesellschaftliche Normen und Strukturen wie von moralischen Orientierungen; Korruption und Kriminalität nehmen rapide zu.

Gorbatschows Reformpolitik lavierte seit 1989 in punkto Demokratisierung und Erhalt der Union zwischen den rivalisierenden politischen Kräften und blieb so insgesamt erfolglos. Das führte zum Niedergang seines Ansehens und seiner Macht und begünstigte Jelzins Aufstieg zum mächtigsten Mann im Kernstaat der zerfallenden Union. Auf dieser Grundlage beginnt Boris Jelzin nach seiner Direktwahl im Juni 1991 zum Präsidenten Russlands seine Herrschaft als radikaler Befürworter von Marktwirtschaft und Demokratie – und wandelt sich in einem Jahrzehnt zum neo-autoritären, aber letztlich glücklosen Krisenmanager und Reformpolitiker.

Doch seit 1990/91 befindet sich Russland in einer mehrfachen Krise:

  • Dem Verlust des Weltmachtstatus nach der Zerfall der Sowjetunion 1991 folgen die Krise imperialen Denkens und die Suche Russland nach einer neuen Rolle als Großmacht wie als Rumpfstaat mit neuer nationaler Identität und neuen internen Integrationsproblemen.
  • Die Transformationsprozesse seit 1986 haben bisher nicht zu einem stabilen politischen System geschweige denn zu durchweg demokratischen und rechtsstaatlichen Verhältnissen geführt.
  • Die wirtschaftliche Transformation hat bisher nicht zum Aufbau einer stabil funktionierenden leistungsfähigen Marktwirtschaft geführt. Die Transformationsprozesse in diese Richtung sind teils unabgeschlossen, teils haben sie nicht zu den gewünschten marktwirtschaftlichen Strukturen geführt. Die Wirtschaft gleicht eher einer Mischung aus Staatskapitalismus, kaum kontrollierten Bankenmanagement, sozial wenig verantwortlichen Unternehmertum sowie weit verzweigten kriminellen Strukturen. Massenarmut, offene und verdeckte Massenarbeitslosigkeit, unbewältigte strukturelle Anpassungen, der Rückgang der industriellen Produktion seit 1990, die Unterentwicklung des Dienstleistungssektors, hohe Inflationsraten, Devisenflucht, grassierende Korruption und die Selbstbereicherung der Beamten stellen gewichtige Elemente der seit Jahren andauernden wirtschaftlichen und sozialen Krise dar.
  • Die Bevölkerung befindet sich in einer Orientierungskrise in Bezug auf die öffentliche und private Moral, gültige alte und neue Werte; effektive Rechte und Verantwortlichkeiten in Staat und Gesellschaft; den Stellenwert der russischen Traditionen und die Sicht der Geschichte, besonders nach 1917; die Selbstdefinition als Nation in einer veränderten internationalen Umwelt.

Auf dem Hintergrund dieser Dauerkrise in fast allen Bereichen von Politik und Gesellschaft sind Erfolge und Misserfolge der Reformpolitik in Russland zu sehen. Kennzeichnend für Russland ist, dass Richtung, Tempo und Reichweite der Reformen in Programmatik und Praxis noch immer grundsätzlich strittig oder unklar sind.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: Russland befindet sich mitten in einem gigantischen Transformationsprozess, der auf vier grundsätzlichen Feldern gleichzeitig stattfindet: von der Kommando- zur Marktwirtschaft; von der autoritären Einparteienherrschaft zu Pluralismus und Demokratie; von der sowjetischen zur russischen Identität; vom Zentralstaat Sowjetunion zu einer wie auch immer gearteten Russländischen Föderation mit mehr Rechten für die Regionen (durch die Ende 1991 erfolgte Auflösung der Sowjetunion in fünfzehn selbständige Staaten hat sich das von Moskau aus regierte Territorium auf etwa drei Viertel, die Bevölkerung jedoch auf die Hälfte reduziert. 1991, im letzten Jahr der Existenz der UdSSR, lebten auf 22,4 Mill. Km² insgesamt 290,1 Mill. Menschen. Die Russische Föderation beherbergte auf 17,1 Mill. Km² nur noch 148,5 Mill. Menschen).

Viele der Katastrophenszenarien, die für Russland entworfen wurden, sind nicht eingetreten. Gemessen an den Prophezeiungen, die das Land ständig im Chaos versinken sehen, bot Russland geradezu ein Bild der Stabilität. Doch es ist eine Stabilität, die nicht unbedingt Anlass für Optimismus gibt. Dmitri Furman, Kommentator der "Obschtschaja gaseta" ("Allgemeine Zeitung") charakterisiert die heutige Lage als "Stabilität im freien Fall".

Zehn Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion und dem Beginn einer Reform, deren Kernstück die Neuordnung des Wirtschaftssystems und eine Umverteilung des gesellschaftlichen Vermögens sein sollte, hat das erhoffte und ersehnte Wachstum der russischen Wirtschaft endlich eingesetzt. Bis einschließlich 1996 gab es nur Jahre mit einem industriellen Schrumpfungsprozess, der unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eingesetzt hat. Unbezahlte Steuern, die oft über mehrere Monate verschleppte Auszahlung von Gehältern und Pensionen sowie zunehmende soziale Not ergänzen das trübe Bild. Die Streikwellen, die immer wieder Teile der Regionen lahm legen, sind nichts als ein verzweifelter Protest gegen Arbeit ohne Lohn, also Diebstahl seitens des Staates oder der Arbeitgeber.

Und doch kann in dem weiten Land von einer Grundwelle des Protestes keine Rede sein. Als die Kommunistische Partei vor wenigen Monaten zu einem nationalen Demonstrationstag gegen die Lohnrückstände aufrief, stieß das in der Bevölkerung auf kläglichen Widerhall. Einer der Gründe für die erstaunliche Langmut der Bevölkerung hat mit der Vitalität der russischen Schattenwirtschaft zu tun. Man schätzt, das mehr als die Hälfte der Erwerbstätigen heute ganz oder teilweise im sogenannten informellen Sektor tätig ist, über den es naturgemäß keine zuverlässigen Statistiken gibt. Aber dort gibt es Wachstum und Investitionen und keine Zahlungsrückstände. Zu dieser Schattenwirtschaft gehören jene Kleinhandels- und Dienstleistungsaktivitäten, die die einst eher unwirtliche Umgebung von Metro- oder Bahnstationen in russischen Städten in geschäftige Basars verwandelt haben oder die Erträge eigener gärtnerischer Unternehmungen auf Balkonen und Datscha-Grundstücken. Experten schätzen, das der offiziell ausgewiesene Wirtschaftssektor heute nur rund die Hälfte des effektiven Bruttoinlandproduktes in Russland ausmacht. Sicher ist, das ohne diesen Bereich, der dem Staat freilich keine Steuern einbringt, im ganzen Land Hunger und Chaos weit verbreitet wären. Der frühere Ministerpräsiden Gaidar erklärte kürzlich, die florierende Schattenwirtschaft sei der Preis dafür, das nach der Auflösung des Sowjetreiches in Russland kein allgemeiner Bürgerkrieg ausgebrochen sei.

Die Kräfteverhältnisse haben sich von Grund auf verändert. In einer goldrauschartigen Gründerphase eigneten sich Angehörige der "alten" Nomenklatura und rasch aufsteigende "biznesmeny" - Geschäftsleute - Immobilien und Aktien an, sicherten sich die Verfügung über Erdöl- und die Buntmetallexporte, eröffneten Kreditanstalten und riefen Finanzholdings ins Leben. Im Laufe kurzer Zeit kristallisierten sich acht große Bankengruppen heraus, die mit den politischen Führungsclans in den Metropolen und Regionen eine enge Verbindung eingegangen sind, darunter etwa die Most-Bank, Agroprombank, die Menatep, die Sberbank, die Onexim-Bank, OLBI, die Stolitschnyj Bank und die Imperial-Bank. Die Finanzgruppen, die in den letzten Jahren gewissermaßen aus dem Nichts entstanden sind, begnügen sich nicht damit, Geschäfte zu machen; sie besitzen Zeitungen und Fernsehsender und unterstützen in großem Maßstab politische Parteien. In Russland sind die Grenzen zwischen Politik, Kapital und Medien durchlässig geworden. Der neuen Wirtschaftselite ist vor allem an der Stabilität der gegenwärtigen Machtverhältnisse gelegen, der sie Aufstieg und Reichtum verdanken. Bei der Erhaltung des Status quo spielen die Medien ganz vorne mit.

Wirtschaftsbosse mit zweifelhaftem Ruf sind an der Führung des Landes beteiligt, nachdem sie noch zu Jelzins Zeiten zur Finanzierung seiner Wahlkämpfe beigetragen haben. Die Gewinne, die nicht zuletzt aus steuerlichen Vergünstigungen und anderen Privilegien folgen, werden zu einem großen Teil nicht in Russland investiert, sondern fließen auf Konten im westlichen Ausland. Was dem Staat damit verloren geht, dürfte jene Summen übersteigen, die er seinen Angestellten, den Rentnern und den sonst Bedürftigen, den Soldaten und Bergarbeitern über Monate hin schuldig geblieben ist. Kurz, es ist ein Transformationsestablishment entstanden, das den Charakter des politischen Systems prägt.

Das liegt vor allem an der engen Verflechtung der politischen Führung mit Industriellen, Energiegiganten und Bankiers, die die verfügbaren Ressourcen untereinander aufgeteilt haben und mit ihren Absprachen der Entwicklung eines funktionierenden Marktes entgegenstehen. Diese stabile und nach außen abgeschottete Oligarchie, die vermutlich nicht mehr als 150 bis 200 Personen umfast, hat ihre Macht in der Zeit Jelzins konsolidiert. Der Begriff Oligarchen wird dabei als bloßes Schlagwort benutzt und hat keinen Bezug zu der staatswissenschaftlichen Kategorie "Oligarchie". Er bezeichnet dabei eine relativ kleine Gruppe von Finanzmagnaten, die in enger Verbindung mit Präsident und Regierung standen und stehen und offenbar auf diese beträchtlichen Einfluss ausübten. Wer zu diesen Oligarchen gehört, steht nicht eindeutig fest. Mit den Worten Alexander Solschenizyn:

"Diese bestimmen das Schicksal des Landes. Das ist die genaue Charakterisierung der heutigen russischen Staatsordnung. Diese ist keineswegs ein Baum, der von seinem Wurzelwerk genährt wird, sondern ein totes Stück Holz, wenn nicht geradezu eine Eisenstange, die gewaltsam in den Boden getrieben wurde. Die Mitglieder dieser Oligarchie vereinen Machthunger und Gewinnsucht; sie verfolgen kein einziges höheres Ziel, das im Dienste des Vaterlandes oder des Volkes stünde".

Während sich als Begleiterscheinung des Übergangs zum Markt eine neue Elite herausgebildet hat, die von der Transformation in exzessivem Maße profitiert, sind große Gruppen der Gesellschaft ins Abseits geraten. So lebt mittlerweile ein Drittel der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. 1995 verfügte das Bevölkerungsfünftel, das in der Einkommensstatistik oben rangiert, über 47,1% des russischen Gesamteinkommens (1994: 44,3%), während das Fünftel mit dem niedrigsten Einkommen gerade einen Anteil von 5,4% (1994: 5,9%) besaß. 1994 waren die reichsten 10% der Bevölkerung fünfzehn mal reicher als die ärmsten 10%, im Jahr 1999 dreizehnmal reicher.

In den wenigen Jahren ist eine tiefe Kluft zwischen Arm und Reich aufgebrochen. Dieser soziale Differenzierungsprozess hatte für die Verlierer ganz unmittelbare und existentielle Folgen. Die Zahl der Säuglinge, die starben, ehe sie das erste Lebensjahr erreichten, stieg 1999 auf 19,9 pro 1.000 (1990 lag die Zahl der Neugeborene, die pro 1.000 starben, bei 17,4). Zugleich sank die durchschnittliche Lebenserwartung von 69 auf 64 Jahre.

Hintergrund dieser bitteren Entwicklung ist die Marginalisierung sogenannter Randgruppen. Rentner etwa können die Kosten für die im Zuge des Aufbaus der Marktwirtschaft kommerzialisierte medizinische Versorgung nicht aufbringen und sterben aus Armut. Junge Familien sind außerstande, sich eine Entbindung im Krankenhaus zu leisten - und damit nimmt die Säuglingssterblichkeit zu. Selbst nach den offiziellen - und ganz sicher immer noch viel zu niedrigen - Angaben ist die Zahl der Arbeitslosen zwischen 1992 und 1999 von 3,5 auf 5,2 Millionen (47% Zunahme bzw. 7% der Beschäftigen) gestiegen.

Im Jahr 2002 werden die Preise für Strom, Gas und Bahnfahrkarten drastisch steigen. Wirtschaftsfachleute befürchten deshalb eine soziale Explosion. Die ersten Tariferhöhungen haben die beiden größten teilstaatlichen Monopolkonzerne Gasprom und der Energieverbund UES ebenso wie die Bahn schon für Februar angekündigt. Danach wollen sie den Preis für Gas um mindestens 35 Prozent, für Strom um 32 Prozent und für Bahnfahrkarten um 30 Prozent erhöhen. Schon Anfang des Jahres stiegen die Mieten in Moskau und Mietnebenkosten wie Heizung, Wasser und Müllabfuhr deutlich. Für das gute Viertel der Bevölkerung, das in Armut lebt, kommt das einer sozialen Katastrophe nahe. Der Durchschnittslohn in Russland beträgt offiziell 1.400 Rubel (rund 51 €). Schon im Jahr 2002 betrug die Inflationsrate 18,6 Prozent und damit weit mehr , als die Regierung mit 12 bis 14 Prozent im Staatshaushalt veranschlagt hatte. Dem diesjährigen Haushalt liegt eine Jahresinflationsrate von 11 bis 13 Prozent zugrunde; Fachleute rechnen aber mit rund 20 Prozent. Dazu tragen die angekündigten Tariferhöhungen bei.

Grundsätzlich sind Preiserhöhungen der Monopolunternehmen nötig, um die teure, längst überfällige Modernisierung der Gas- und Energieversorger sowie der Eisenbahn zu finanzieren. In einer Untersuchung der Soziologin Nadeschda Wawilina aus Nowosibirsk heißt es, dass die Hälft der Menschen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren verarmt sei. Wer überhaupt eine Arbeit finde, verdiene oft nur sehr wenig. Auch wenn die Moskauer Zentralregierung Gehaltserhöhungen verspreche, hätten die Betroffenen wenig davon. Denn die Regionen haben allzu oft kein Geld, um ihre Beamten zu zahlen.

Millionen von Arbeitern in staatlichen oder privatisierten Betrieben, Lehrern und Soldaten wird wegen leerer Kassen zum Teil schon seit Monaten kein Lohn ausbezahlt. Ungezählte Arbeitnehmer müssen mit Naturalentschädigungen vorliebnehmen und sind zum primitiven Tauschgeschäft gezwungen. Gewiss haben viele Arbeitnehmer inzwischen gelernt, ihr minimales Einkommen mit Nebentätigkeiten aufzubessern oder sich mit Einkünften aus zwei oder drei regulären Arbeitsverhältnissen durchzuschlagen. Die Unzufriedenheit mit den herrschenden Verhältnissen und mit der politischen Führungsgruppe, die dafür verantwortlich gemacht wird, wächst. Insofern ist der relevante politische Gegensatz für die Mehrheit der russischen Bürger nicht der zwischen Kommunisten und Demokraten oder Konservativen und Reformern - diese Begriffe haben im russischen Alltag schon lange den Inhalt verloren. Vielmehr tritt der Widerspruch zwischen Transformationsgewinnern und Habenichtsen immer stärker in den Vordergrund.

Doch trifft diese düstere Beschreibung bei weitem nicht die ganze Realität im weiten Russland. Wäre es anders, hätte im Frühjahr 2000 bei der Wahl um die russische Präsidentschaft keine klare Mehrheit der Wähler für Putin und gegen den Kommunisten Gennadi Sjuganow gestimmt. Es gibt sogar diskutable Prognosen, die für Russland schon in naher Zukunft einen bedeutenden wirtschaftlichen Aufschwung voraussagen. So zum Beispiel der britische Wirtschaftsprofessor Richard Layer und der frühere Moskau-Korrespondent des Economist, John Parker, in ihrem kürzlich in London erschienenen Buch The Coming of the Russian Boom.

Solche Prophezeiungen mögen die Widrigkeiten und Gefahren der heutigen russischen Wirklichkeit leichtfertig verharmlosen. Tatsache aber ist, das sich Russland schon seit einem Jahrzehnt in einem Zustand rasender Veränderungen befindet. Diese haben trotz aller Verwirrungen und Rückschläge das Land weiter in Richtung einer aufgeklärten Demokratie gebracht, als man das in den Zeiten ungebrochener Sowjetherrschaft je zu hoffen wagte.

Heute ist zentrales Interesse für Individuen und Gruppen in Russland das Überleben unter erschwerten Bedingungen. Die Absicht und die Fähigkeit zu gestalten, ist dagegen nur schwach ausgeprägt. Dies zu verstehen ist die wesentliche Voraussetzung, um sich der russischen Realität erfolgreich anzunähern. Für die meisten Akteure, Gruppen etc. geht es nicht darum, etwas zu realisieren und umzusetzen, sondern von Tag zu Tag zu reagieren, über die Runden zu kommen und ihre Position in einer höchst instabilen inneren Situation zu halten oder zu verbessern. Der Vorrang des Geschehens durch Ad-hoc-Reaktionen gilt gleichermaßen für innere wie für äußere Politik. Sowenig wie es eine wirtschaftliche Schocktherapie gab, gab und gibt es keine Balkan-, Westeuropa-, Chinapolitik etc. Statt dessen gibt es situatives Reagieren. Das hat allerdings auch positive Wirkungen. Die vergleichsweise noch immer stabile Struktur einer postsowjetischen Gesellschaft beruht inzwischen in nicht geringem Maße auf der Fähigkeit von Individuen und Gruppen, Formen der Selbstinitiative und -organisation zu entwickeln und den überforderten Staat zu entlasten.

 

Politische Führungsinstanzen der Russischen Föderation

Zeit der Wirren, Machtvakuum, Machtkampf, Chaos, Zerfall - die Reihe der furchterregenden Schlagworte, mit denen Russland in den letzten Jahren bedacht wird, ist lang. Doch dem Land geht es insgesamt besser als zu den Zeiten von Präsident Jelzin. Die Politik wird in Moskau wieder von rationaleren, an wirklicher Erneuerung interessierten Kräften gesteuert. Präsident Putin ist offenbar entschlossen, die Jahre seiner Präsidentschaft konsequent für die Überwindung des kommunistischen Erbes und die Schaffung eines modernen, weltoffenen Russlands zu nutzen.

Das mit der Verfassung von 1993 ganz auf den damaligen Präsidenten Jelzin zugeschnittene russische Machtgefüge hat immer wieder Zeiten gekannt, in denen der Präsident wochenlang kaum arbeitsfähig war und wo sich Beobachter und Bevölkerung gleichermaßen gefragt haben, wer wirklich im Kreml regiert, wenn der Präsident psychisch oder physisch angeschlagen ist. Dann hat das System von Gewicht und Gegengewicht, das Präsident Jelzin mit der Verteilung und Umverteilung von Kompetenzen zwischen Präsidialverwaltung, Sicherheitsrat und Regierung geschaffen hat, eine gewisse Stabilität und letztlich auch Funktionsfähigkeit gesichert. Ohnehin sah es so aus, als sei der Herrschaftsstil Jelzin in der Vergangenheit weniger von Initiative und Konzeption als vielmehr von der Reaktion auf die Eingaben der jeweiligen Umgebung geprägt. Unter Putin ist das nun ganz anders.

Anders formuliert: Die Machtkonstellation ist ganz auf eine Person zugeschnitten und verfolgt das Ziel, die Rolle des Präsidenten soweit zu stärken, dass seine Handlungen nicht mehr durch andere Institutionen in Frage gestellt werden können. Aus diesem Grund wurde alle Macht bei einer Person konzentriert, die keinen demokratischen Kontrollen unterworfen ist. Strukturen für eine geordnete Vorbereitung und Implementierung von Entscheidungen sind dagegen nicht vorgesehen.

Die heutige politische Ordnung in Russland ist eine Kreuzung aus Demokratie und Autoritarismus und wird als "Demokratie der Nomenklatura", "Kapitalismus der Nomenklatura" oder "Bürokratura" bezeichnet. Der Moskauer Soziologe Leonid Ionin nennt das heutige System seines Landes "eine autokrative Demokratie". Jelzin habe damals die Demokratie eingeführt und die demokratischen Grundinstitute geschaffen, "gleichzeitig aber hat er sie unwirksam gemacht".

Viele Beobachter in Moskau ergänzen dies noch dadurch, dass sie auf die erstarkende autoritäre Komponente des Regimes verweisen - ein Trend, der bereits nach der Beschießung des Obersten Sowjets im Herbst 1993 einsetzte. Präsident Putin mag vielleicht nicht die Macht eines Autokraten besitzen, aber die byzantinischen Strukturen sind vorhanden. Das ihm untergeordnete politische Regime, auch der Gewaltapparat, sind nicht immer imstande, die Situation vollständig zu kontrollieren, und der bürokratische Apparat ist weitgehend korrupt und wenig effizient. Zahlreiche unabhängige Schattengruppierungen sind einflussreich, zudem existieren unterschiedlich orientierte politische Organisationen und pluralistische Massenmedien, an die sich die Gesellschaft inzwischen gewöhnt hat.

Kennzeichnend für den politisch-administrativen Prozess ist ein hohes Maß an Personalisierung. Sie umfasst mehrere Aspekte:

  • die dominante Rolle des Präsidenten und einflussreicher Berater sowie die zentrale Rolle von mächtigen Individuen ("Führer", "Oligarchen", "Regionalfürsten" und "Industriebossen") im politischen Entscheidungsprozeß;
  • die wichtige Rolle von Medien-Images, der personenbezogenen visuellen Repräsentation von politischer Macht, von Interessen und Argumenten im Fernsehen als dem wichtigsten Massenmedium;
  • gute persönliche Beziehungen (blat) und informelle Netzwerke, gewachsene Loyalitäten und Vertrauensbeziehungen sind nicht etwa nur in der "großen Politik", sondern im Alltag, im Umgang des Bürgers mit staatlichen Behörden ("eine Hand im Ministerium haben", sagen die Russen) und privaten Einrichtungen oft entscheidend für günstige Bescheide und selbst kleine Vorteile;
  • die starke Rolle von persönlichen Interessen und Rivalitäten, von privater Bereicherung und Korruption innerhalb und außerhalb der politischen Institutionen.

De jure verfügt allein der Inhaber des Präsidentenamtes über die bewaffnete Macht. Doch allein die verfassungsrechtliche Regelung, die den Präsidenten qua Amt zum Oberbefehlshaber der Streitkräfte macht, besagt wenig über das Vermögen, das Gewaltinstrument auch zu handhaben. Um seine Vollmachten de facto auszuüben - um die Streitkräfte zu führen und Militär- und Sicherheitspolitik zu konzipieren -, benötigt der Präsident einen funktionierenden Apparat. In der Tat verfügt der russische Präsident über ein Geflecht von Institutionen, zu denen auch Komponenten gehören, die mit Sicherheits- und Militärpolitik befast zu sein scheinen. Allerdings ist es schwierig, Klarheit darüber zu erlangen, in welcher Weise diese Institutionen ineinander greifen und wie die internen Entscheidungsweg verlaufen.

In instabilen Staaten laufen die Entscheidungsprozesse nach keinem festen Schema ab, so dass Interessengruppen, Lobbyisten und politische Randfiguren unbotmäßig in die Politik eingreifen. Zwar ist der Zugang zu Informationen über die internationale Politik Russland inzwischen durch ein breites Medienspektrum gewährleistet. Aber außenpolitische Fragen werden in der russischen Presse überwiegend unter Mitgliedern der politischen Ebene debattiert, sie sind nicht von großem Interesse in der breiten Öffentlichkeit. Zudem könnte von einem öffentlichen Druck auf die russische Regierung erst dann gesprochen werden, wenn sich innerhalb der russischen Öffentlichkeit gesellschaftliche Institutionen bilden würden, die ihre außenpolitische Meinung kontinuierlich artikulieren und durchzusetzen versuchen. Dies ist aber im Falle Russlands, das sich in der Anfangsphase demokratischer Konsolidierung befindet, nicht gewährleistet. Somit ist die Einflussvariable "öffentliche Meinung" im russischen Kontext insgesamt als schwach einzustufen.

Bisher läst sich in Russland deutlich sehen, dass beispielsweise der Wandel der russischen Außenpolitik Folge einer Instrumentalisierung von internationalen Ereignissen durch innerstaatliche Akteure ist, wodurch der auf die Regierung ausgeübte innenpolitische Druck verstärkt wird. Im Zuge der politischen Transformation Russlands finden politische Planung und Entscheidungsfindungen in einem - im Vergleich zur früheren Sowjetunion - offeneren, pluralistischen Prozess statt. Die Anzahl der Akteure und der durch sie repräsentierten Interessen hat sich inzwischen allerdings dramatisch erhöht. Einflussreiche wirtschaftliche, soziale oder auch regionale Interessengruppen stellten in Russland neben einigen wichtigen exekutiven Strukturen die eigentlichen Machtzentren dar, wobei die Politik einzelner regierungsinterner Institutionen überwiegend durch die Zielvorstellungen von Einzelpersonen bestimmt sind, die zum Teil auch nachweislich an wirtschaftliche Interessengruppen außerhalb des Regierungsapparates rückgekoppelt sind.

Anders als in etablierten demokratischen Systemen lassen sich jedoch bislang keine zwischen diesen verschiedenen Interessen vermittelnden politischen Instanzen bestimmen. In unmittelbarem Umfeld Putins treten neben Einzelpersonen verschiedene bürokratische Strukturen hervor - die Präsidentenadministration, die die laufenden Geschäfte führt und bei der Vorbereitung und Implementierung von Entscheidungen mitwirkt, der Sicherheitsrat, der mit seinen interministeriellen Kommissionen über einen eigenen Apparat verfügt, mit dem er in die Ressorts hineinwirkt, der Verteidigungsrat, der Präsidentenrat oder die außenpolitische Kommission beim Präsidenten. Ferner existiert ein Gehilfendienst, der eine Reihe von Beratern zusammen fasst.

Die Präsidentenadministration soll laut Statut die Tätigkeit des Präsidenten, der Regierung, des Sicherheitsrates und der Beratungsinstanzen im Umfeld des Präsidenten organisatorisch gewährleisten, sie soll Vorschläge, Empfehlungen und Prognosen zur politischen Strategie konzipieren und Gesetzesvorlagen erarbeiten, die die Strategie des Präsidenten in praktische Politik umsetzen. Sie ist somit die Schaltstelle der Politik.

Die Verwaltung des russischen Präsidenten ist in den letzten Jahren zu einem riesigen Apparat angewachsen, der angesichts der starken Position des Präsidenten in der russischen Verfassung ganz entscheidend die politischen Geschicke mitprägt. Damit nehmen aber auch Personen Einfluss auf die Politik, die weder gewählt noch rechenschaftspflichtig gegenüber Parlament und Regierung sind, sondern ihren politischen Einfluss allein dem engen Vertrauensverhältnis zu Präsident Putin verdanken. Die Gesamtzahl der Mitarbeiter des Präsidentenapparats wird (ohne Militärkräfte) auf ca. 4.000 Personen geschätzt.

Der Sicherheitsrat der Russischen Föderation steht im Geflecht der Apparate, die den Präsidenten umgeben, neben der Präsidentenadministration, dem Gehilfendienst und dem Sicherheitsdienst des Präsidenten. Von diesen Beratungs- und Dienstleistungsstrukturen unterscheidet sich der Sicherheitsrat allerdings in wesentlichen Zügen. Zwar dient auch dieses Gremium formal nur der Beratung des Präsidenten, doch gehören ihm die wichtigsten Spitzenpolitiker an.

Der Sicherheitsrat war im Juli 1992 durch einen Erlass des Präsidenten geschaffen worden und diente zunächst als Gremium zur Beratung des Staatsoberhauptes in Fragen der innen- und außenpolitischen Sicherheit. Im Laufe der Zeit wurde er zu einem Organ kollektiver Entscheidungsfindung, bei dem die Fäden der unterschiedlichen Apparate zusammenlaufen. Er stellt somit die eigentliche Regierung dar, ohne in der Verfassung als solche gekennzeichnet zu sein. Gemäß einem Erlass Jelzins vom 7. Juli 1992 sind die Beschlüsse des Sicherheitsrates verbindlich für alle Behörden der Föderation sowie für alle lokalen Exekutivorgane und müssen innerhalb von zwei Tagen ausgeführt werden.

Eigentlich dürfte der Sicherheitsrat keine verpflichtenden Entscheidungen treffen, da er gemäß Artikel 11 der Verfassung der Russischen Föderation nicht als Organ der Staatsmacht genannt wird. Das Präsidialdekret vom Juli 1992 definiert den Sicherheitsrat als reines Konsultativorgan. Als Entscheidungsorgan ist der rund 15-köpfige Sicherheitsrat verfassungswidrig. Die Verfassung der Russischen Föderation besagt, dass sein Status durch ein Föderalgesetz bestimmt werden muss, das es jedoch immer noch nicht gibt. Durch ein Dekret aus dem Jahre 1996 wurden dem Sicherheitsrat weitreichende Vollmachten in allen Fragen der inneren und äußeren Sicherheit verliehen, die bis in die Bereiche Wirtschaft, Soziales und Umwelt reichen. Der Präsident, der Ministerpräsident, der Sekretär des Sicherheitsrates, der Vorsitzende des Föderationsrates sowie der Vorsitzende der Staatsduma gehörten dem Sicherheitsrat ex officio als ständige Mitglieder an, was die Grenzlinie zwischen Legislative und Exekutive verwischte. Alle anderen Mitglieder vor allem die "Machtminister" (Außen- und Verteidigungsminister, Direktor und Sekretär des Föderalen Sicherheitsdienstes FSB) werden vom Präsidenten in den Sicherheitsrat berufen.

Der Gehilfendienst des Präsidenten ist der Präsidentenadministration nicht unterstellt, seine Mitglieder sind dem Präsidenten direkt zugeordnet. Aufträge erhalten sie unmittelbar von Putin oder durch den Ersten Gehilfen, Iljuschin. Die Gehilfen sind jeweils für bestimmte Politikfelder zuständig. Zwar werden die einzelnen Gehilfen durch die Analysedienste der Präsidentenadministration unterstützt, doch agieren sie vor ihr unabhängig. Ihr Einfluss ist schwer zu bestimmen, er hängt wohl auch von persönlichen Konstellationen ab.

Der Ministerpräsident, momentan Michail Kassjanow, ist offiziell der zweite Repräsentant des Staates. Während der Abwesenheit des Präsidenten vertritt er ihn. Gleichwohl ist er als Ministerpräsident nicht für alle Ressorts zuständig, seine Rolle unterscheidet sich grundsätzlich von den Regierungschefs westlicher Demokratien. Das Außenministerium und die sogenannten "Machtministerien", zu denen die Ressorts Inneres und Verteidigung aber auch der Föderale Sicherheitsdienst - ein Teil des ehemaligen KGB - gehören und alle zentralen Einrichtungen, die legal Staatsgewalt ausüben dürfen, unterstehen dem Präsidenten direkt. Der Ministerpräsident ist damit letztlich nur für Wirtschaft und Soziales zuständig. Anders formuliert: Der Ministerpräsident war schon in der Sowjetzeit der oberste Wirtschaftslenker des Landes, und er ist es geblieben.

Trotzdem ist er einer der Hauptspieler beim Poker der Mächtigen in Moskau. Falls der Präsident vor dem Ende seiner Amtszeit ableben oder aus gesundheitlichen Gründen freiwillig zurücktreten sollte, bestimmt die Verfassung den Ministerpräsidenten für eine Übergangszeit, bis zu den innerhalb von drei Monaten anzuberaumenden Wahlen, zu seinem Stellvertreter. Das war auch der Weg, über den Präsident Jelzin seinen Nachfolger Putin installieren konnte. Die Verfassung schreibt weiter vor, dass der Präsident zurückzutreten hat, wenn er aus Gesundheitsgründen dauerhaft nicht in der Lage ist, seine Aufgaben zu erfüllen. Doch wer entscheidet, wann dieser Fall gegeben ist? Ist es der Präsident selber, oder kann eine solche Entscheidung auch ohne seine ausdrückliche Willenserklärung durchgesetzt werden?

Das Parlament, das heißt die Föderalversammlung, bestehend aus Staatsduma (450 Abgeordnete) und Föderationsrat (178 Abgeordnete), hat insgesamt nur eine schwache Stellung gegenüber dem Präsidenten und der Regierung. Ihr Einfluss beschränkt sich auf die Gesetzgebung in zentralen Fragen, den Beschluss über den Staatshaushalt (und damit über Wirtschaftssubventionen und die Zuweisungen an die Regionen) sowie sehr begrenzten Kontrollfunktionen gegenüber der Exekutive. Seit 1999 gibt es in der Duma eine sichere "präsidiale Mehrheit" für Putin, so dass er als "Präsident über den Parteien" bei wichtigen Gesetzesvorhaben viel weniger als Jelzin auf wechselnde Koalitionen angewiesen ist. Zugleich wird die ihn vorbehaltlos unterstützende "Partei der Macht" (Einheit-Bär) seit dem Sommer 2000 gezielt auf- und ausgebaut.

 

Wer gibt in Moskau tatsächlich den Ton an?

Angetreten war Putin mit dem Anspruch, die "Diktatur des Gesetzes" durchzusetzen. Gemeint war damit, eine verlorene Ordnung wieder herzustellen, die unordentlichen und kostspieligen institutionellen Wucherungen zurückzuschneiden, die gigantische, das öffentliche Leben zerfressende Korruption zu reduzieren und die in wirtschaftlicher Stagnation mündende private Ausplünderung des Landes zu beenden. Diesen Versäumnissen will Putin mit seinen Konzepten eines "starken Staates" begegnen. Damit verfolgt er vor allem vier Ziele:

  • mehr Sicherheit und Ordnung im Alltagsleben der Bürger, auf der Straße und bei den Behörden;
  • mehr Rechtssicherheit, d.h. er will Recht und Gesetz Geltung verschaffen und es "von oben" durchsetzen, so dass das Zusammenleben berechenbarer wird, Verbrechen und Vergehen regelgerecht und effizient bestraft werden;
  • Bekämpfung der allgegenwärtigen Korruption;
  • Vor allem aber: der Wille der Zentralmacht und ihrer Organe soll in allen Rechtsbereichen und Territorien durchgesetzt werden. Die Stärkung der Exekutive im Kreml, von Militär, Geheimdiensten, Polizei und Justiz soll zum einen vor manchem Chaos und vielfältiger Anarchie bewahren, wie sie in der Ära Jelzin in oft unerträglichem Maße gewachsen waren. Zum anderen aber, und wesentlich bedeutender, soll sie die Macht dieser Institutionen und ihrer Chefs stärken, damit diese ihren politischen Willen effektiv durchsetzen und effizient arbeiten können.

Damit steht er ganz in der russischen Tradition des Strebens nach einem starken "großen" Zentralstaat, mächtig und angesehen nach innen und außen. Wer den russischen Alltag kennt, der wird den Ruf nach Ruhe und Ordnung und Putins Ziele zunächst für legitim und ihre Durchsetzung für dringend notwendig halten. Dabei darf man allerdings eines nicht übersehen: Das Konzept des gelernten Sowjetjuristen und Geheimdienstschefs ist obrigkeitsstaatlich geprägt, Unterordnung und Strafe werden betont. Denn die Konzeption der "Diktatur des Gesetzes" lässt bestimmte Kernelemente des Rechtstaates westlicher Demokratien vermissen: die gewaltenteilige Selbstbeschränkung aller staatlicher Macht, der Schutz des Bürgers vor dem Staat, Freiheits- und Abwehrrechte also, die die Grund- und Menschenrechte zur obersten Richtschnur staatlichen Handelns machen, die einklagbar und auch gegen den Staat durchsetzbar sind.

Es läst sich feststellten, dass der Prozess der sicherheits- und militärpolitischen Entscheidungsfindung in Russland verschiedenartigen Einflüssen ausgesetzt ist, unter denen der militärische keineswegs der größte ist. Fachlich motivierte Vorstellungen der Ressorts oder gar gesamtstaatliche Interessen spielen eine untergeordnete Rolle. Infolgedessen und angesichts der fortgesetzten Konkurrenz der Apparate und Personen, der Vielfalt von Beratungsgremien ist nicht damit zu rechnen, dass die russische Führung wenigstens auf mittlere Sicht eine berechenbare Außenpolitik und Sicherheitspolitik betreibt oder rationale, an den realen Kräfteverhältnissen orientierte militärpolitische Entscheidungen fällt. Die Person des Präsidenten kann dabei nur in Grenzen als Korrektiv wirken.

Das russische Regierungssystem wird durch eine Fülle von konkurrierenden Machtzentren und Parallelstrukturen mit unklaren Kompetenzen geprägt. Man hat den Eindruck, dass die Spitzen des Beamtenapparates und die informellen Berater und Einflussstrukturen in der Umgebung des Präsidenten oft die eigentliche Macht haben. Flügelkämpfe zwischen jungen, liberalen Technokraten und Kreisen der Finanzwelt und der nichtmilitärischen Industrie gegen die Führung der "Machtministerien" und der Lobby des Militärisch-Industriellen Komplexes sind deutlich wahrzunehmen. Jede Mannschaft, die an die Macht gelangt, beginnt diese neu zu verteilen, das "fremde" Personal zu verdrängen und die "eigenen" Mitarbeiter unterzubringen. Der Machtkampf zwischen den beiden deutlichst sichtbaren Machtgruppen hat sich in letzter Zeit zugespitzt: dem Rest der sogenannten "Jelzinfamilie" einerseits und den neuen "Petersburgern" andererseits. Die St. Petersburger kennen Wladimir Putin aus dessen Petersburger Zeit und gelangten mit ihm zusammen an die Macht. Zu den exponiertesten Vertretern der Jelzingruppe gehören vor allem der Leiter der Präsidialverwaltung Alexander Woloschin und Premierminister Miachail Kassjanow. Die Petersburger Gruppe ist unter anderem durch den Leiter der Präsidentenkanzlei Igor Setschin, und FSB-Direktor Nikolai Patruschew vertreten.

Eigentlich war erwartet worden, dass mit der russischen Verfassung von 1993 die Staatsorgane besser aufeinander abgestimmt und so effizienter arbeiten könnten. Statt dessen entstand eine Vielzahl miteinander konkurrierender Apparate und Gremien, die sich gegenseitig behindern und in Schach halten. Immer wieder werden neue Organe geschaffen und andere aufgelöst, bestehen wieder andere weiter, verlieren aber an Bedeutung. Sie alle dienen einzelnen Personen als Bühne und Instrument, um bestimmte Eigeninteressen durchzusetzen und sich zu positionieren.

Die Ausbildung eines starken politischen Zentrums der Macht ist ein bestimmender Wesenszug der russischen politischen Kultur. Der Moskauer russische Staat verdankt seinen historischen Erfolg der Autokratie. Das politische System ist nur dann voll funktionsfähig, wenn eindeutig klar ist, wer an der Spitze der Macht steht. Herrschaft ist in Russland immer ausschließlich homogen gewesen, diesseitiges Symbol für die eine, unverbrüchliche Wahrheit. Der ehemalige Erste Stellvertretende Premier und Jelzin, Nemzow, hat Boris Jelzin einmal einen "guten russischen Zaren" genannt - obwohl dieser Präsident für den Tod von Zehntausenden Menschen im Tschetschenienkrieg verantwortlich war. Nemzow begründete dies mit den Worten:

"Unter jedem Zar - hieß er nun Iwan der Schreckliche oder Peter der Große - sind Menschen umgekommen. Ganz gleich, ob der Zar gut oder schlecht war. Von Stalin ganz zu schweigen. Das ist unser tragisches historisches Schicksal. Als ich von unserem Präsidenten als 'gutem Zaren' gesprochen habe, meinte ich einzig seine menschlichen Qualitäten: Er ist nicht bluttrünstig".

Parteien sind den meisten Menschen und vor allem der Führung Ausdruck der Spaltung, des Unguten, der zerstörten Harmonie, des Fraktionalismus. Sie sind, so weit verbreitet, Schuld an der gegenwärtigen Misere und müssen überwunden werden, damit es wieder aufwärts gehen kann. Wer die Parteienfeindlichkeit in der russischen Provinz erlebt hat, kann sich nicht vorstellen, dass in den nächsten Jahren politische Gruppen nach westlichem Muster entstehen werden.

Die Machthaber in Russland arbeiten heute mit Begriffen und Institutionen rechtsstaatlicher demokratischer Systeme, füllen sie aber mit ganz anderen Inhalten und verwischen so die Grenzen der Gewaltenteilung. Ein Teil des Staatsapparates und der staatlichen Industrie, der die Notwendigkeit von Veränderungen einsah und nun die neuen Oligarchien Russlands stellt, setzte sich gegen die reformunwillige "Stalin-Fraktion" durch, die sich heute zum Teil in der Kommunistischen Partei wiederfindet. Zu diesen Oligarchien gehören sowohl Reformer als auch Zentristen. Mit dem Präsidenten verbündet sie ein Zweckbündnis, in dem jeder dem anderen hilft, an der Macht zu bleiben, wobei ein ständiges Gerangel um die wechselseitige Einflussnahme herrscht. Präsident Putin verfolgt dabei autoritäre Strategien, während die oligarchische Fraktion versucht, ihre Interessen durchzusetzen. Der Menschenrechtler Sergej Kowaljow sieht weiterhin eine Nomenklatura an der Macht, die das Bewusstsein von Sowjetmenschen habe:

"Diese Politiker haben kein besonderes Wissen und können nur eins - Intrigen spinnen. Sie schieben Kader hin und her - mit den Mitteln und Fähigkeiten von kommunistischen Gebietsparteichefs".

Der Präsident verfügt über eine solche Fülle von Macht (gemäß Verfassung), wie kein anderer demokratisch legitimierter Präsident in modernen Industriegesellschaften. Dennoch kann der Präsident seine Ziele keineswegs so durchsetzen, wie er es möchte. Die Vollmachten des russischen Präsidenten sind gewaltig; wenn er aber einen Fehler macht, geben Politologen, Journalisten und Öffentlichkeit nicht ihm die Schuld, sondern rechnen den Fehler der Inkompetenz seiner Mitarbeiter und Berater an. Der Präsident erhält hier quasi monarchische Sanktionierung. Dabei ist er bisher einer Taktik immer treu geblieben: stets andere für Missstände verantwortlich zu machen.

 

Was bringt die Zukunft?

Seit über zehn Jahren ist Russland auf dem langen und schwierigen Weg vom Imperium zum Staat der russischen Bürger. Immer in seiner Geschichte hat sich dieses Russland als mächtiges Reich verstanden, in dem Staatspolitik mehr wog als das Recht. In den wenigen Jahren des Umbruchs hat sich keine stabile zivile Gesellschaft mit unabhängigen Institutionen entwickeln können (obwohl heute bereits rund 350.000 NGOs registriert sind, von denen 70.000 regelmäßige Arbeit leisten; allerdings haben derartige Organisationen in Russland ein schlechtes Ansehen, die Mitarbeit dort erregt oft Misstrauen). Das politische Establishment ist im Gegenteil weiter bemüht, ihre Interessen durchzusetzen. Die Argumente sind demokratisch gestylt, aber die Motive dahinter ursowjetisch. "Unser Elite hat sich nicht geändert", sagt der Politologe Viktor Kremenjuk. "Früher warf sie mit kommunistischen Parolen um sich, jetzt mit demokratischen, deren Inhalt sie genauso wenig ernst nimmt".

Unter Stalin entlarvten die Karrieristen "Volksfeinde", unter Chruschtschow verkündeten sie die "Vorteile des Maisanbaus für die sozialistische Viehzucht", unter Breschnew priesen sie Breschnew, unter Gorbatschow verbreiteten sie sich über Glasnost. Jetzt diskutieren sie Bürgerkontrolle und humanen Strafvollzug. Und das möglichst lautstark, auf Titelseiten, in Fernseh-Shows und auf immer neuen staatseigenen Homepages. Die Untertanen, die man früher Genossen nannte, heißen jetzt Bürger. Früher beschwor man den endgültigen Sieg des Kommunismus, jetzt das Heraufdämmern der Zivilgesellschaft.

Präsident Putin persönlich eröffnete Ende November 2001 im Kreml das erste "Bürgerforum" mit einer glänzenden Rede, zu dem rund 4.500 Vertreter von Bürgerinitiativen aus ganz Russland geladen waren. Er betonte auf diesem Forum öffentlich die Wichtigkeit einer unabhängig von staatlicher Steuerung autonom funktionierenden Zivilgesellschaft. Es folgten Diskussionszirkel unter klangvollen Titeln: "Neue Kader für Gesellschaft und Staat" oder "Die Rolle der Zivilgesellschaft in der nationalen und gesellschaftlichen Sicherheit der Außenpolitik". Als einer der Teilnehmer jedoch vorschlug, den Bürgerinitiativen eine Wochenstunde offene Sendezeit im Fernsehen zu geben, entzog man ihm das Wort. Zivilgesellschaft ja, aber ohne freie Rede.

Selbst russische Demokraten neigten mit verständlicher Ungeduld dazu, Veränderungen zu erzwingen. Sie fürchteten, die Staats- und Machtgläubigkeit ihrer Mitbürger könnte den Prozess des Übergangs zu einem modernen, demokratischen Staat umkehren und Russland noch einmal unter dem schweren Deckel des Bleisarges begraben, der unter Zaren und Kommunisten dem Land den Atem genommen hatte.

Wie immer das Machtgefüge letztlich aussehen wird: Russland wird auf absehbare Zeit ein Land bleiben, dessen Ordnung nur teilweise von Gesetz und Verfassung bestimmt ist; es wird ein Staat sein, der von starken Personen, von den Machthabern in der Zentrale und in den Regionen, geprägt ist. Für alles andere fehlen bisher die Voraussetzungen. Es gibt keine eingewurzelte demokratische Tradition und keine Rechtssicherheit sondern nur die Gewohnheit, sich auf Pole der Macht auszurichten. Die Parteien in der Duma sind lockere Koalitionen - die Abgeordneten halten sich an diejenigen, die ihre Privilegien bewahren und ihnen weitere Wohltaten zukommen lassen.

Weil der innere Zustand Russlands noch auf länger Zeit so sein wird, bleibt das Land für die Welt ein schwer berechenbarer Partner. Vieles deutet darauf hin, dass Moskau weiterhin bestrebt sein wird, mit dem Westen auskömmliche Beziehungen zu bewahren. Dafür sprechen nicht zuletzt Interessen der mächtigen Rohstoffindustrie. Auch Finanzinteressen weisen in diese Richtung: Es ist vorhersehbar, dass Russland auf westliche Hilfe angewiesen bleibt, um seine Haushaltsdefizit auszugleichen. Da kann man sich einen demonstrativen Bruch schwerlich leisten.

Das heißt nicht, dass Russland sich still in Entscheidungen fügen wird, die im Westen getroffen werden. Mit Außenminister Iwanov hat Präsident Putin einen Apparatschik zum Außenminister, der noch die Klaviatur der alten sowjetischen Diplomatie beherrscht. Im Blick auf die geplante Ost-Erweiterung der NATO spielt er verschiedene Tonarten: einmal schrill ablehnend, dann sanftere Harmonien, um dem Westen Zugeständnisse zu entlocken. Das mindeste, was das in den Tagen der Supermacht Sowjetunion geprägte politische Personal erreichen will, ist, dass Russland sein Gesicht wahre, dass es in weltpolitischen Fragen Mitsprache behalte und als gleichberechtigter Partner Europas und Amerikas anerkannt werde.

Wenn man heute die politische Lage analysiert, so muss man zu dem Schluss kommen, dass die größte Leistung von Präsident Jelzin und Präsident Putin darin besteht, trotz der erdrückenden Probleme eine Radikalisierung der Politik nicht ins Auge gefasst zu haben. Es gibt weder eine erkennbare Eskalation der russischen sozialen und politischen Konflikte, noch ist die Wirtschaftsentwicklung des Landes, so dramatisch sie im einzelnen auch sein mag, außer Kontrolle geraten. Auch hat die labile inneres Situation der Föderation durch den Krieg in Tschetschenien nicht zu dem vorausgesagten Chaos geführt.

Was geht aber heute im einstigen Sowjetmenschen vor sich, wie findet er sich zurecht? Dreierlei hat sich in diesem Land 1991 auf einen Schlag ereignet und wirkt bis heute bedeutungsschwer nach: Zusammengebrochen ist ein Imperium, doch auch ein ideologisches Machtgefüge und dazu noch eine spezifische Wirtschaftsordnung, womit Russland wieder einmal vor der Herausforderung steht, sich nach westlichem Vorbild zu modernisieren. Allen Epochen bis in die jüngste Gegenwart gemeinsam ist aber, dass im großen Russland der Mensch die billigste Ware blieb, mit der die Regierenden in großzügiger und verächtlicher Weise verfahren konnten. Keinem Land der abendländischen Zivilisation blieb bis in die jüngste Gegenwart der Grundsatz moderner Gesellschaften fremd, dass jeder Mensch einen Anspruch auf Lebensglück habe - wie es die Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika als "pusuit of happiness" in ihre Verfassung schrieben. Menschen zählten und zählen nichts - in einer sinnlosen Schlacht um Grosny, in der Misswirtschaft des Sozialismus mit Arbeits- und Todeslagern ebenso wenig wie bei Peter dem Großen, der Sankt Petersburg in einem Sumpf errichten ließ. Die Stadt, die Russlands goldenes Fenster zum Westen wurde, steht auf den Gräbern derer, die zu ihrem Bau zusammengetrieben wurden.

Die anhaltende Schwäche der Zivilgesellschaft hat daher über die psychische Erschöpfung der Bürger hinaus weitere Ursachen. Sie liegen im sozio-kulturellen Erbe und in fortwirkenden Machtstrukturen des alten Nomenklaturastaates begründet. Da sich Einstellungen und Überzeugungen in jeder Gesellschaft nur sehr langsam wandeln, ist auch die paternalistische politische Kultur des Sowjetbürgers noch tief im Bewusstsein der russischen Bevölkerung verankert. Dies bremst die Selbstorganisation der Gesellschaft. Im übrigen behindern auch die noch diffusen sozialen und ökonomischen Interessenlagen ein stärkeres Engagement. In den letzen Jahren sind gleichwohl eine Reihe gesellschaftlicher Interessengruppen entstanden, ob Unternehmerverbände oder neue unabhängige Gewerkschaften. Die sich langsam ausdifferenzierenden sozialen Interessen müssen - wie empirische Untersuchungen belegt haben - allerdings erst von Lobbyisten artikuliert und aggregiert werden, um eine Klientel überhaupt anzuziehen. Dieser Vorgang stößt wiederum auf Probleme der politischen Rekrutierung. Denn politische Eliten und Führungstalente entstammen immer noch weitgehend dem schier unendlichen Reservoir der alten und der adaptierten neuen Nomenklatura in den bürokratischen Apparaten der staatlichen Verwaltung und der Branchenindustrie. Hier florieren weiterhin Staatslobbys aller Art, informelle Netzwerke, Seilschaften und Clans.

Die politische Pluralisierung im Rahmen von Interessengruppen oder politischen Parteien - eine der grundlegenden Voraussetzungen jedes Demokratisierungsprozesses - wird so quasi zum Spielplatz der herkömmlichen Lobbys. Jedenfalls wirkt das alte Sowjetsystem mit dem ihm eigentümlichen Korporatismus, institutionalisierten Pluralismus und Klientelismus mächtig auf die Herausbildung neuer pluraler gesellschaftlicher Strukturen ein. Am Ende des ersten Jahrzehnts von Russlands "Wiedergeburt" prägt der Wettbewerb, der zwischen den Gruppen des staatlichen Apparats um Macht, Einfluss und materielle Vorteile ausgetragen wird, in einem weitaus stärkeren Ausmaß den politischen Prozess als die gesellschaftliche Selbstorganisation. Deren Repräsentanten, die mit dem bürokratischen Apparatepluaralismus meist gut vertraut sind, ziehen es im übrigen vor, sich an all den neuen demokratischen Institutionen vorbei unmittelbar mit den Staatslobbyisten zu arrangieren. Vermutlich ist heute das stärkste Bollwerk gegen den Autoritarismus nicht Russlands noch zerbrechliche Zivilgesellschaft, sondern der fragmentierte Charakter der postkommunistischen Elite selbst, deren zahlreiche Gruppen sich aus purem Eigeninteresse autoritären Maßnahmen widersetzen.

Selbst die Armee der Russländischen Föderation zeichnet sich nicht durch Geschlossenheit, sondern durch Konfliktlinien und Spaltungen aus. Dieser für die Nachfolgerin der ruhmreichen Sowjetarmee wenig schmeichelhafte Zustand hat seine Vorteile. Aus ihm resultiert die geringe Wahrscheinlichkeit, dass die Armee in eigenständiger Initiative und Verantwortung die Macht an sich zu reißen versucht. Dies schließt jedoch ein Zusammengehen von Teilen des Militärs mit einer zivilen Gruppe von Verschwörern nicht aus.

Die Fragmentierung des Staates und die Desorientierung der Gesellschaft sind Hauptmerkmale der realen Verfasstheit Russlands. Die Macht ist polyzentrisch versprengt, ob in den regionalen und zentralen Verwaltungsapparaten, in den mächtigen Industrie- und Agrarlobbys, der Mafia oder schon in den neuen Wirtschafts- und Finanzkreisen. Die Macht in Russland hat allerdings kein Gesicht, auch wenn es im Lande Gesichter gibt, die über Macht verfügen, beispielsweise die Häupter der nationalen russischen Republiken oder die Repräsentanten der politischen Führung in Moskau. Als Deszendenten der kommunistischen Herrschaftsklasse sind sie in ihrem politischen Handeln und Denken noch stark vom alten System geprägt. Es fällt ihnen in aller Regel schwer, ihre Amtsrollen so auszufüllen, dass die neuen Einrichtungen zu selbsttragenden Säulen des Regimes werden. Nach wie vor dominieren Personen gegenüber den demokratischen Institutionen. So fügt sich die Personalisierung der Politik zu der Privatisierung der Macht.

Gewiss besteht die Demokratie im gegenwärtigen Russland noch zu größeren Teilen aus bloßen Fassaden und Symbolen. Doch nicht alle Seiten des neuen Russlands sind bloße Kulisse, und die Drehbühne zurück zum Sowjetsystem ist versperrt. Wichtige Lebensadern des alten Systems wurden durchschnitten. Der dogmatisierte Marxismus-Leninismus hat als die einzige Staatsideologie ausgedient. Die monokratische Machtstruktur, in der die kommunistische Advantgardepartei mit dem Staatsapparat symbiotisch verbunden war, ist verschwunden. Eine Rückkehr zu diesen Systemdominanten scheint ebenso ausgeschlossen wie ein Wiederaufleben der sozialistischen Planwirtschaft.

Im Unterschied zu den noch fließenden Konturen der drei klassischen Staatsgewalten hat sich die vierte Gewalt, die Presse und die elektronischen Medien, äußerst erfolgreich im öffentlichen Leben etabliert. Sie leistet vor allem sichere Lotsendienste auf dem Weg zu einem besseren Verständnis demokratischer Institutionen und Werte. Auch zivilgesellschaftliche Ansätze entwickeln sich weiter, freilich mit unsteter Dynamik. Bei aller Skepsis gegenüber den neuen Institutionen und, mehr noch, gegenüber den herrschenden Eliten, haben sich die Menschen an die schon bestehenden demokratischen Errungenschaften wie die Meinungs- und Pressefreiheit gewöhnt und diese schätzen gelernt. Bald wildwüchsig, bald probeweise haben sich Ansätze von Checks and Balances in der Funktionsweise der Staatsorgane etabliert. So bildeten sich in den Weiten Russlands Gegenmächte zum Moskauer Zentrum heraus, die beide Seiten zum Aushandeln von Konflikten und zur Kompromissfindung zwingen.

Bei aller Widersprüchlichkeit und Offenheit des gegenwärtigen politischen Prozesses ist der demokratische Weg zumindest eine der möglichen Entwicklungsperspektiven. Dies schließt weitere autoritäre Zwischenspiele nicht aus. Klare Prognosen über den künftigen Weg Russlands in diese oder jene Richtung erscheinen augenblicklich ebenso wenig seriös wie Mutmaßungen über die Zeitspanne, die es neue Generationen kosten mag, allein die Periode der Nomenklaturdemokratie zu überwinden.

Wie verarbeiten nun die Menschen diese Zeitenwende, die heute noch kein Wissenschaftler, sondern dereinst wohl nur die Feder eines großen russischen Epikers voll erfassen und deuten kann. Eine Frage der Generationen, so lautet die häufigste Antwort. Dass das Weltbild der Veteranen in sich zusammengestürzt ist, verwundert nicht. Die jüngeren dagegen hätten keinerlei Erschütterung erlebt. Das Reich kümmere sie nicht, Russland bleibe am Ende auch so groß genug. An die Partei und ihre Sprüche habe niemand mehr geglaubt, weshalb ihr denn auch keiner auch nur eine Träne nachweine. Unternehmensfreudige Jugend nutze die neuen Chancen. Schwerer wiege der berufliche Schiffbruch, den der Wechsel für viele mit sich gebracht habe.

Bei den Kommunisten dagegen stimmen noch die guten alten Begriffe. Abgeordnete in der Duma bezeichnen in Gesprächen die Vorgänge im heutigen Russland als eine "bourgeoise Konterrevolution", den Putsch im August 1991 nennen sie einen "letzten heroischen Versuch zur Rettung der Sowjetunion". Was aber bieten sie dem Wahlvolk an, das sich in Wahlen äußern soll? Zuerst einmal eine ideologische Ehrenrettung. Nein, der Kommunismus sei keineswegs unterlegen. In China, Vietnam und Nordkorea bestehe er weiter, und dies beweise, dass der in Osteuropa lediglich ein Opfer "besonderer, geopolitisch bedingter Kräfte- und Produktionsverhältnisse" geworden sei. Und wie halten sie es mit Eigentum und Pluralismus? Die Partei trete dafür ein, dass sich 60% des Produktionsapparates in staatlicher und 20 bis 25% in genossenschaftlicher Hand befinden sollten; was den Rest angehe, könnte man "auf strenger Familienbasis und ohne Ausbeutung" Kleinunternehmen zulassen. An Parteien benötige man nur zwei: Kommunisten und allenfalls Sozialdemokraten. "Für andere und vor allem für Liberale ist bei uns kein Platz. Russland war und bleibt für immer kollektivistisch."

Zwar sind Anhang und Gewicht der entmachteten Kommunisten, zumal in der Provinz, beträchtlich, doch die Moskauer winken gewöhnlich ab, wenn die Rede auf die Nachfolger der gestern noch allmächtigen Partei kommt: vergangen, nicht der Erwähnung wert. Doch der Hinweis auf den russischen Kollektivismus läst sich nicht so einfach abtun. Er schließt die in Russland bisher ausgesparte Frage ein, ob es denn wirklich Zufall war, dass in diesem Land 1917 innere Kräfte dem Bolschewismus zum Sieg verholfen haben - ein Vorgang, der sich in Europa hernach nirgends mehr wiederholte.

Im heutigen Russland ist die gierig-rücksichtslose Selbstbereicherung einer dünnen, mit der Sphäre der Politik und der Kriminalität verwachsenen Schicht in erster Linie dank der Grauzone möglich, in welcher die noch staatlichen, aber hemmungslos zu privater Produktion benutzten Betriebe stehen und in der Rohstoffe, die innerhalb der GUS unter nach wie vor günstigen Austauschbedingungen den Besitzer wechseln, zu Weltmarktpreisen ans Ausland weiterverkauft werden. Im Grunde genommen hat sich nach 1991 wenig geändert: die Namen seien bloß anders geworden. "Die dort oben", wie die Russen ihre Herrscher nennen, haben eine Mentalität bewahrt, die mit Selbstverständlichkeit dazu neigt, den Staat als ihr Eigentum zu betrachten. Nichts anderes haben Intellektuelle im Sinn, wenn sie erklären, die Herrschaften um den damaligen Präsident Jelzin hätten in dessen Zeit den Staatsbesitz geplündert und seien jetzt - wenig verwunderlich - an der Stabilisierung der Lage interessiert.

Doch so ist das Bild allzu einseitig. Der Umbruch hat der Angst des sowjetischen Untertanen ein Ende gesetzt, Freiräume geschaffen, das Privateigentum und die Möglichkeit unternehmerischere Initiative etabliert, die Meinungs- und Pressefreiheit gebracht, von der Gebrauch gemacht wird, die Grenzen geöffnet für Menschen und fremdes Gedankengut, kurz, die Horizonte russischer Welt weit hinausgeschoben. Auf die Dauer kann das auch dann nicht ohne Breitenwirkung bleiben, wenn Putins Regime sich mehr und mehr in Richtung autoritärer Machtausübung bewegt. Aber noch gibt es keine Garantien gegen einen Rückfall in diktatorische Zustände, denn die kurze Zeit seit dem Umbruch bietet noch keine Sicherheit.

Wer die Sowjetunion gekannt hat und heute Russland besucht, findet eine andere Welt vor, begegnet aber auch auf Schritt und Tritt dem kommunistischen Erbe, das in die Gegenwart hineinragt. Äußere Zeichen des Umbruchs wirken vor diesem Hintergrund oft komisch widersprüchlich, während in Gesprächen stets die Frage wiederkehrt, wie viel Kollektivismus Russland gemäß ist und allen politischen Systemen immer eigen sein wird.

 

Die möglichen Entwicklungspfade

Putin erschien von Anfang an als Alternative. War Präsident Jelzin großmäulig, alt, krank, schwächlich und erkennbar unfähig geworden, so erschien Putin jung, sportlich, energisch und zurückhaltend. Er war auch in keinen Korruptionsskandal erkennbar verwickelt. Dass er loyaler Mitarbeiter des St. Petersburger liberalen Reformers Sobtschak gewesen war, weckte das Wohlwollen der liberalen Wirtschaftsreformer, von großen Teilen der demokratischen Opposition und vieler westlicher Beobachtet. Dass er die ersten Etappen seiner beruflichen Laufbahn im KGB – teilweise in Deutschland – zurückgelegt hatte, macht ihn den konservativ-kommunistischen Milieus sympathisch. Schließlich kamen ihm schon als Ministerpräsident die terroristischen Attentate von 1999 zugute. Sie weckten patriotische und anti-kaukasische bzw. anti-islamische Stimmungen in der Bevölkerung und entlockten Putin eine entschlossene Kampfrhetorik, die der Bevölkerung gefiel und die Nation einte.

Die russische Öffentlichkeit war im Herbst 1999 entsetzt und zutiefst verunsichert, nachdem es in verschiedenen russischen Städten zu Sprengstoffanschlägen gegen Wohnhäuser gekommen war, bei denen mehrere hundert Menschen getötet wurden. Hinter diesen Verbrechen vermutete man tschetschenische Extremisten, die Russland damals auch durch kriegerische Einfälle in der Nachbarrepublik Dagestan herausforderten. Doch bis heute hat die russische Justiz keine stichhaltigen Beweise für eine tschetschenische Beteiligung an den verheerenden Sprengstoffanschlägen vorgelegt. Der auf einen sehr dubiosen Vorfall in der Stadt Rjansan stützende Verdacht, dass Elemente des Geheimdienstes bei diesen mörderischen Taten die Hände mit im Spiel gehabt haben könnten, ist bis heute nicht ausgeräumt. Wie auch immer: Als der damals frisch ernannte Ministerpräsident Putin als Folge dieser Terrorwelle einen neuen Feldzug zur Eroberung der separatistischen Republik Tschetschenien organisierte, avancierte er sofort zum populärsten Politiker in Russland.

Es war nach der Machtübernahme am 31. Dezember 1999 niemandem zweifelhaft, dass Putin die Präsidentschaftswahlen glänzend gewinnen würde. Und so geschah es auch. Der schmutzige Wahlkampf vor den Parlamentswahlen im Herbst 1999, das öffentlich vernehmbare Versprechen an Jelzin, ihn nicht strafrechtlich für Vergehen während seiner Amtszeit zu belangen (am selben Tag, an dem Putin zum Präsidenten ernannt worden ist, hat er per Dekret dem zurückgetretenen Jelzin Immunität und andere Privilegien garantiert), die ersten Maßnahmen gegen den Oligarchen Gusinskij und damit gegen die Medienopposition überhaupt, das bereits erkennbar werdende Abwürgen aller anhängigen Korruptionsverfahren wurden kaum gegen Putin ins Feld geführt. Sie schadeten ihm nicht.

Putins Zustimmungsraten bleiben bis heute hoch. Sie liegen noch immer bei rund 75 Prozent. Es spricht nichts dafür, dass diese Umfrageergebnisse geschönt sind. Der Personenkult, der sich seit 2000 um Putin entwickelt, übersteigt inzwischen den Kult um Breschnew. Es ist aus der sowjetischen Geschichte vertraut, dass die Bescheidenheit und Zurückhaltung der Herrscher Elemente des Kultes sein können, gegen den sich der Herrscher aus Bescheidenheit nicht wehrt.

Tatsächlich war Putin vergleichsweise erfolgreich. Er erreichte in kurzer Zeit eine ambivalente Stabilisierung der Verhältnisse. Dank seiner grandiosen Wahlsiege und seines patriotischen Auftretens zähmte er die Duma; auch die linken und rechtsextremen Parteien gaben ihre Fundamentalopposition, die Jelzin das Herrschen schwer gemacht hatte, auf. Die Reform der Regionalstrukturen beendete die rebellische Selbstständigkeit der Regionen. Indem Putin die Macht erhielt, nicht nur gewählte Provinzgouverneure abzusetzen, sondern indem er sie in sieben neu gebildeten föderalen Generalgouvernements zusammenfasste und ihnen von ihm selbst ernannte Aufsichtspersonen vor die Nase setzte, brachte er ein weiteres zentrifugales Element der russischen Politik auf Linie.

Der Kampf gegen den Oligarchen Gusinskij, den Putin in scheinbarer demokratischer Unschuld vom Justizapparat und der Finanzadministration führen ließ, zeigte erstens, dass es mit deren Unabhängigkeit nicht weit her war und sie den neuen Präsidenten als den Herrn im Hause zu akzeptieren hatten. Es zeigte zweitens, dass Putin, wenn nötig, auch bereit war, gegen einst scheinbar allmächtige Oligarchen vorzugehen. Als er sich sogar gegen Beresowskij wandte, der zum inneren Kern von Jelzins Hofstaat gehört hatte und dessen Medien Putin selbst seinen Wahlsieg verdankte, gab es drei Interpretationsmöglichkeiten für Putins Strategie.

Die erste sah eine Rückkehr zu einem autoritärem Regime. Ihr zufolge beseitig Putin nicht nur potentielle Gegner in den politischen Machtstrukturen. Er versucht das ganze politische Leben in den Griff zu bekommen und ihm zugleich eine nach außen hin demokratisch-rechtsstaatlich erscheinende Fassade zu zimmern. Für dies Interpretation sprach und spricht viel. Die Stärkung der Exekutive im Kreml, von Militär, Geheimdienst und Polizei, eine Politik, die auf der Basis eines "starken Staates" und der "Diktatur des Gesetzes" von oben Ordnung schaffen will und dabei auf "Einheit", "Disziplin" und Unterordnung in Staat und Gesellschaft setzt. Der Krieg in und gegen Tschetschenien ist ein schmutziger und brutaler Krieg, welcher Frieden letztlich nur über die Ruhe eines Friedhofs herstellen kann. Daran ändert sich auch wenig, wenn er als Krieg gegen den Terrorismus dargestellt wird.

Noch immer setzt die Sicherung der Macht primär persönliches Vertrauen voraus. Putin stützt sich in wirtschaftlichen Fragen vor allem auf die St. Petersburger Wirtschaftsliberalen. Sein engerer persönlicher Umkreis aber setzt sich mehr und mehr aus Vertrauten aus dem Geheimdienst zusammen. Auch wenn diesen Mitarbeitern eine technokratische Kompetenz unterstellt werden könnte, die Begeisterung für rechtsstaatliche Institutionen und Verhaltensweisen stand nicht in ihrem Lehrplan. Selbstständige und selbst bestimmte Aktivitäten an der Basis erscheinen aus ihrer Perspektive als Aufsässigkeit und Verrat. Die Zivilgesellschaft ist ihnen anders als eine gelenkte, in der also die scheinbar zivilgesellschaftlichen Organisationen als Transmissionsriemen des herrschenden Willens eingesetzt werden, undenkbar.

Putins ausdrückliches Ziel ist die Wiederherstellung eines starken Staates und eine Wiedergewinnung der Großmachtposition Russlands. Dies entspricht auch der Selbstdarstellung nach innen: Putin hat nicht nur die alte Sowjethymne – mit neuem Text – wieder eingeführt. Die offizielle Geschichtsdarstellung führt die große Zeiten imperialer Macht des russischen Staates vor – von den Zaren bis zur Sowjetzeit. Die sowjetische Epoche erscheint annähernd so, wie sie einst dargestellt wurde: die wissenschaftlich-technischen Errungenschaften ohne die Opfer, der Repressionsapparat ohne Repression – eine Geschichte, in der Russland von sich aus immer groß und gut war.

Schließlich spricht für dies erste Interpretationsmöglichkeit, dass Putin die Schikanen gegen die existierenden wirklichen zivilgesellschaftlichen Organisationen zugelassen hat und ihnen vorwerfen ließ, sie seien von westlichen Geheimdiensten finanziert. Das Misstrauen gegen alles, was eine effiziente Opposition sein könnte, wird auch in dem Plan erkennbar, die Kontrolle der Infrastruktur aller elektronischen Medien in einer "Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft" zusammenzuführen, die dem Medien-Ministerium unterstellt sein wird. So findet eine starke Einschränkung der Pressefreiheit durch Ausgabe von Richtlinien für die Berichterstattung insbesondere über den Tschetschenien-Krieg, durch administrative, justizielle und propagandistischen Druck auf allzu deutliche öffentliche Kritik an seiner Amtsführung statt.

Die zweite mögliche Interpretation sieht Putin als geschickten Reformer. Er hat danach zunächst jene Ordnung hergestellt, die Voraussetzung für effizient durchgeführte Veränderungen ist. Das Haus wird nicht eingerissen, sondern erst stabilisiert und dann schrittweise umgebaut. Anders als Gorbatschow beseitigt Putin nicht die Basis seiner Macht, sondern stärkt sie, damit er nicht wie jener von chaotischen Entwicklungen, die er ausgelöst hat und nicht mehr beherrschen kann, überrollt wird. Putin verwendet dieser Interpretation zufolge die alten politischen Mechanismen nur, um jene Loyalität der Bevölkerung und der politischen und administrativen Apparate zu sichern, die er für den beharrlichen und allmählichen Umbau benötigt.

In diese Richtung geht die Beschränkung der Macht der Gouverneure und Präsidenten der Subjekte der Russländischen Föderation seit dem Sommer/Herbst 2000. Auf Betreiben Putins wurde schließlich mit Zustimmung der beiden Kammern der Föderalversammlung der Föderationsrat geschwächt: Mitglieder dieses Gremiums sind nicht mehr die Gouverneure bzw. Präsidenten und Parlamentspräsidenten der Subjekte der Föderation, sondern nur noch ihre Vertreter. Die Autonomie der Regionen wird beschnitten durch die Schaffung der Institution von "Bevollmächtigten Vertretern des Präsidenten" in sieben , neu gebildeten "föderalen Distrikten", Groß-Regionen, die im wesentlichen mit den Militärbezirken der RF übereinstimmen. Zu diesen neuen "Generalgouverneuren" wurden vor allem ehemalige Militärs und Geheimdienstoffiziere ernannt.

Putin kann ferner die Chefs von Regionen absetzen, die sich weigern, innerhalb einer bestimmten Frist Rechtsnormen zu ändern oder Maßnahmen aufzuheben, die der Verfassung und den Gesetzen der Föderation wiedersprechen. Einerseits ist es dringend nötig, um mehr Rechtseinheit und Rechtssicherheit in den Regionen zu erreichen. Andererseits ist ernsthaft zu befürchten, dass Präsident Putin diese neuen Instrumente für rein politische Zwecke in Macht- und Interessenkonflikten mit einzelnen Regionen und ihren "Fürsten" einsetzen wird.

Für diese Interpretation spricht auch, dass Putin außer gegen Gusinskij und Beresowkij gegen keine anderen Oligarchen Maßnahmen zuließ. Ihnen aber hat er den direkten persönlichen Zugang, den sie selektiv bei Jelzin besessen hatten, verwehrt. Sie sollen Unternehmerverbände gründen, mit denen dann zu verhandeln wäre. Die Institutionalisierung von gesellschaftlichen Interessen würde, wenn sie erst gemeint ist, einen Bruch mit russischen Traditionen bedeuten und die Bedingungen für einen Rechtsstaat herstellen. Das wird auch in anderen Zusammenhängen erkennbar. Die russische Justiz war nie unabhängig, sie hat sich immer politische Anweisungen geben lassen. Es gibt nun Anzeichen auf eine Stärkung der Unabhängigkeit der russischen Gerichte, aber leider auch Gegenbeweise. Schließlich hat sich Putin mehrfach selbst auf zivilrechtliche Entwicklungen öffentlich festgelegt. Das tat in dieser Eindeutigkeit allenfalls Gorbatschow in der Spätphase seiner Macht.

Die dritte Interpretationsmöglichkeit sieht Putin in einer eher schwachen Rolle: Er ist als politisch unerfahrener und bislang subalterner Beamter in seine Stellung gekommen. Die politische Selbstdarstellung habe er zwar erstaunlich rasch zu beherrschen gelernt, aber ein politischer Kopf sei er nicht. Vielmehr sei er ein eher vorsichtiger Vermittler zwischen den weiterhin herrschenden Elitenfraktionen.

Dafür spricht, dass die großen Reformwerke noch kaum auf den Weg gekommen sind. Trotz aller kleinen Fortschritte fehlt die Gesamtreform des Justiz- und des Repressionsapparats auch in Umrissen; sie sind noch weit davon entfernt, rechtstaatlich transformiert zu sein. Auch das Steuersystem ist trotz einiger Verbesserungen bei weitem noch nicht hinreichend komplex und effizient. Noch immer werden konfiskatorische Steuern gefordert und in entsprechend großem Maßstab Steuern hinterzogen.

Für diese Interpretation spricht auch, dass das Volumen produktiver Investitionen nicht zugenommen hat; noch immer und in absehbarer Zeit auch weiterhin sei der russische Staat von Energie- und Rohstoffexporten abhängig. Es gibt auch keine Anzeichen, dass sich dies mittelfristig ändert. Vor allem aber rottet die überkommen Infrastruktur weiter vor sich hin. Je länger sie aber nicht erneuert wird, desto teurer wird ihr Wiederaufbau. Auch hier scheint keine Besserung in Sicht zu sein. Selbst Jelzins Hofstaat ist teilweisen noch in Amt und Würden – etwas Jelzins Chef der Kremlverwaltung, Woloschin, versehe immer noch seine alten Aufgaben. Die alten Netze sind zwar reduziert, aber sie bestehen fort. Auch weiterhin herrscht die alte konspirative Vertraulichkeit und Öffentlichkeitsscheu. Politische Kämpfe werden wie unter Jelzin mit kompromittierendem Material (Kompromat), das von staatlichen stellen gesammelt wurde, ausgetragen.

Die fortbestehende Schwäche ist schließlich Folge eines Mangels an Alternativen. Es gebe eben kein anderes einigermaßen kompetentes politisches, administratives und wirtschaftliches Führungspersonal. Putin muss mit jenen zurechtkommen, die vorhanden sind, und die haben noch ihre überkommenen gruppentypischen sowjetischen Routinen und Reflexe.

Zwischen diesen drei Interpretationsmöglichkeiten pendelt die russische Entwicklung tatsächlich. Sie enthält also auch optimistische Aspekte: Trotz aller Rückschläge sind neue Mittelschichten entstanden, die in eine Gesellschaft altrussischer oder sowjetischer Gängelung nicht mehr hineinpassen. Es ist eine demokratische Strömung entstanden, die auf die Dauer an Gewicht gewinnen wird.

Es geht also darum, die Widersprüchlichkeit der Entwicklung aus westlicher Sicht zu erkennen, das einerseits-andererseits. Russland ist auch heute noch fast zehn Jahre nach seiner vielbeschworenen demokratischen "Wiedergeburt" ein Land voller Widersprüche, in dem angesichts der ambivalenten Entwicklung kein klares Urteil über seinen Zustand möglich ist. Beschreibungen des Status quo können nur mit Begriffspaaren wie "einerseits, andererseits" operieren und müssen immer "die beiden Seiten" des neuen Russlands im Auge haben. Bei den "beiden Seiten" geht es um mehr als eine simple Bilanzierung von Fortschritt und Rückschritt auf dem proklamierten Weg in die Demokratie. Denn die Auseinandersetzung zwischen autoritärem Erbe und demokratischem Neubeginn folgt eher widersprüchlichen als geradlinigen Wegen. Bald stehen Altes und Neues im heftigen Widerstreit, bald in friedlicher Koexistenz zueinander, bald überlappen oder amalgamieren sich alte und neue Elemente, ob im institutionellen, ideologischen oder sozio-kulturellen Bereich.

Einerseits sind demokratische Institutionen auf der Basis einer 1993 durch Referendum angenommenen Verfassung, die zwar dem Präsidenten große Machtfülle einräumt, aber dennoch eine Teilung der Gewalten vorsieht und ein frei gewähltes Parlament auf der Basis eines Mehrparteiensystems beinhaltet, errichtet worden. Andererseits sind die neuen demokratischen Institutionen und erst recht die neuen Parteien kaum in der Gesellschaft verankert, so dass die Machtministerien, die Mafia und die neue Nomenklatura zunehmend den Kurs bestimmen.

Einerseits wurde die Position der russischen Regionen gestärkt, mit denen Moskau, wie im Falle Tatarstan, sogar besondere Verträge abschloss. Andererseits setzen sich föderalistische Prinzipien im traditionelle zentralistischen Russland nur schwer durch, und die Gouverneure sind durch Putin wieder an die Kandarre genommen worden und durch die Einführung von sieben Generalgouverneuren in ihren Gebieten zum Teil einer starken Reglementierung unterworfen worden.

Einerseits wurde eine weitgehende Privatisierung durchgeführt, andererseits fielen eine Vielzahl von Betrieben letztlich nur in die Hände der alten Nomenklatura.

Einerseits gibt es einige wirklich neue Leute in der Administration, andererseits haben sich die alten Kader in vielen Fällen in die neue Zeit gerettet.

Einerseits entsteht in Russland erstmals eine politische Öffentlichkeit mit einer Vielzahl von zum Teil durchaus regierungskritischen Tageszeitungen und auch privaten Fernsehkanälen sowie einem großen Bücherangebot ohne jeglicher Beschränkung, mit zumindest in den größeren Städten regem politischem Leben mit Debatten und offenen Auseinandersetzungen sowie Restaurants, Cafés etc. Andererseits versucht der Kreml mit allen Mitteln diese Medien-Freizügigkeit wieder einzuschränken und hat im Januar 2002 den letzten privaten kritischen Fernsehsender schließen lassen. Die neue politische Öffentlichkeit hat aber auch einen neuen Nationalismus mit bis zu faschistischen Tendenzen hervorgebracht, dessen Bedeutung allerdings nicht überschätzt werden sollte, denn die Bewohner Russlands sind es gewöhnt, in einem multinationalen Staat zu leben. Von daher sollen diese Entwicklungen nicht überbewertet werden.

Die städtische Bevölkerung wird zunehmend aktiv, es werden zwei oder drei Jobs angenommen und so das Überleben gesichert. Es gibt aber auch Apathie bei einigen Bevölkerungskreisen, vorwiegend auf dem Land und bei den Pensionären. Die Infrastruktur wird in den großen Städten umfassend modernisiert. Wer heute nach Moskau kommt, dem fallen sofort die vielen neuen Geschäfte, Restaurants und renovierten Hotels auf. Doch das russische Hinterland bleibt bei dieser Entwicklung oft weit zurück. Organisierte Kriminalität breitet sich in den Metropolen aus, doch fühlt man sich in Moskau auch nicht unsicherer als in New York City, jedenfalls nicht, wenn man nicht zu den weniger superreichen "neuen Russen" gehört.

Schließlich die Korruption, die den Nerv des russischen Staates anfrisst. Doch man stelle sich vor: In einer Millionenstadt wie Moskau werden in kurzer Zeit die einstmals dem Staat gehörenden Wohnungen zugunsten ihrer Bewohner fast zum Nulltarif privatisiert. Kann es da verwundern, dass die Korruption wuchert?

Ein zentraler Fehler des Westens besteht darin, dass er Russland und seine politischen Führer gleichsetzt. Damit trägt der Westen zur Fortsetzung des jahrhundertealten Gegensatzes, ja der Feindschaft zwischen dem russischen Bürger (der er im westlichen Sinne bislang nie war) und dem Staat bei. In Wirklichkeit kommt es jedoch darauf an, mit sehr langem Atem diejenigen Elemente der russischen Gesellschaft zu unterstützen, die sich die Aufhebung des Widerspruchs zwischen Staat und Gesellschaft zum Ziel setzten.

Dabei wird es nicht ohne Rückschläge abgehen, und der Westen sollte sich jeglicher Besserwisserei enthalten. Denn eines ist auch sicher: So rosig wie vor einigen Jahren ist das Bild des Westens in Russland auch nicht mehr. Die meisten gebildeten Russen können der Überschwemmung ihres Landes mit Schokoriegeln und schlecht synchronisierten Soap-operas nun einmal nicht viel abgewinnen, und dass ein großer Teil der westlichen Hilfe, zum Beispiel der Europäischen Union, von vornherein nur dazu bestimmt ist, in andere westliche Taschen umgeleitet zu werden, hat sich inzwischen auch herumgesprochen.

Worauf es in den nächsten Jahren ankommt in den Beziehungen zwischen West und Ost, ist das Bemühen, trotz aller Rückschläge (wie es der fürchterliche Tschetschenien-Krieg ist) neue gegenseitige Vorurteile nicht zur Entfaltung kommen zu lassen, Grautöne in der gegenseitigen Einschätzung zuzulassen und gemeinsam am Aufbau freundschaftlicher Beziehungen - etwa durch einen intensiven Jugend-, Kultur- und Sportleraustausch, Städtepartnerschaften und gegenseitigen Tourismus - zu arbeiten, auch dann, wenn Russland sich Führer wählt, die dem Westen nicht hundertprozentig genehm sind. Denn es kann nicht einfach darum gehen, dass Russland in kürzester Zeit das westliche Modell adaptiert, so wie - mit den entsprechenden Friktionen - die Bürger der ehemaligen DDR es getan haben. Das muss aber andererseits auch einschließen, das antidemokratische Tendenzen, Verfassungsbrüche, Menschenrechtsverletzungen und rechtswidrige Handlungen der heutigen Regierung offen angesprochen werden.

Es darf nicht nur darum gehen, dass Russland sich in kürzester Zeit dem westlichen Modell anpasst, sondern der Westen muss alles tun, um einen inneren Wandel in Russland zu fördern. Dies kann nur durch aufmerksames Beobachten politischer Entwicklungen, intensive Diskussion und partnerschaftliche Unterstützung des demokratischen Lernprozesses geschehen. Dabei müssen wir wissen und tolerieren, dass es eine Aufgabe für mindestens eine Generation ist, diesen Wandel von autoritären Strukturen zu demokratischen Miteinander zu schaffen. Während der Westen jahrzehntelang Milliarden um Milliarden bezahlt hat, um im Wettrüsten gegen die Sowjetunion zu bestehen, machen sich heute nur wenige Politiker Gedanken, wie sich eine wirtschaftliche, soziale und auch ökologische Katastrophe eines Landes, dessen Gebiet ein Sechstel der Erdoberfläche bedeckt, verhindern läst. Allein die Misere der russischen Wirtschaft bedeutet ein Sicherheitsrisiko für den Rest der Welt. Entsprechend sollte Russland unterstützt werden.

Vor diesem Hintergrund hat kein Geringerer als der Menschenrechtler Sergei Kowaljow in einer eindringlichen Betrachtung über Russland bekannt, er hege die "schüchterne Hoffnung", dass sein Land sich auf dem Weg befinde, für den "Westler" wie Puschkin, Alexander Herzen und Andrei Sacharow eingetreten seien. Diese Geistesgrößen, schreibt Kowaljow, stehen für ein Russland, das zur großen europäischen Zivilisation gehöre. Daneben aber gibt es eine andere russische Tradition, die sich bewusst vom Westen und von seiner aufklärerischen Rationalität abgrenzt, die machtpolitisch eher von asiatischen Herrschaftsmustern und geistig von der Mystik der orthodoxen Kirche und ihren slawophil-nationalistischen Verknüpfungen geprägt ist. Niemand kann auch nur halbwegs mit Gewissheit voraussagen, wie die Entwicklung sein wird. Mit neuen Rückschlägen und Turbulenzen muss immer gerechnet werden.

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Strukturdiagramm: Das politische System Russlands (PDF-Format ca.300kb)



© 2010 Dr. Peter Barth